Gangster und Gewalt: Die Doku "Mr. Scorsese“ huldigt einem Filmgenie

Es gibt diese superbe Fremdschämszene in der jüngst mit 13 Emmys überschütteten Apple-Comedy-Serie „The Studio“. In der weint Martin Scorsese auf einer Party. Da hat der Regisseur gerade erfahren, dass Studioboss Matt Remick (Seth Rogen) ihm das Drehbuch zu seinem „letzten großen Werk“ letztlich nur abgekauft hat, damit es dessen CEO Griffin Mill in den Kerker der nie gedrehten Filme werfen kann.
Wodurch es einem seiner (idiotischen) Blockbusters-to-be nicht in die Quere kommen kann. „Ach, wäre ich nur zu Apple gegangen“, seufzt der am Boden zerstörte Scorsese, auf die Streamingdienste anspielend, die sich gern mit den ganz großen Kinonamen schmücken und ihnen dafür mehr Freiheiten gewähren.
Ab 17. Oktober steht Martin Scorsese (82) nun bei Apple TV+ im Mittelpunkt der Dokureihe „Mr. Scorsese“. Und weint nie. Trägt in den Interviews mit der Regisseurin Rebecca Miller oft ein breites Lachen auf dem Gesicht. Das immer wieder zu einem melancholischen Lächeln gerinnt, wenn er von Misserfolgen spricht.
Wie es 1988 „Die letzte Versuchung Christi“ war, der Herzensfilm des Katholiken Scorsese. Darin gewährt er dem von Willem Dafoe gespielten Jesus die Vision eines normalen Familienlebens samt Sex mit Maria Magdalena. Er erwacht am Kreuz und akzeptiert seine Berufung als Heiland: „Es ist vollbracht.“
Martin Scorsese spielt sich selbst in der Comedyserie "The Studio"
Ein Film nach dem Roman von Nikos Kazantzakis, der jeden Christen mit Nächstenliebe im Leib eigentlich zu Tränen hätte rühren müssen. Eigentlich. Der aber vor allem zeternde Gläubige und Scheinheilige, missmutige Kleriker und Ordensschwestern sowie einen Bombenanschlag auf ein Kino nach sich zog. Himmel hilf!
Fünf Stunden, die nur so dahin rasen. Die zurückführen in eine Kindheit in New Yorks Little Italy in den 40er- und 50er-Jahren, wo die Straßen voller Leben sind, aber auch voller Mafiosi und abgelegter Leichen. Sein Onkel Joe hat „Kontakte“ und muss von Martins Vater manchmal vor den Mobstern gerettet werden, deren „Social Club“ direkt gegenüber der Kirche liegt. Martin hat Asthma. Papa geht mit ihm ins Kino, da ist die Luft kühl. Hier beginnt die Liebe zum Film, die zur Obsession wird.

Scorseses oft schwieriger Weg wird gezeigt: vom kindlichen Zeichner eines Monumentalfilm-Storyboards bis zum bislang letzten Kinofilm, dem Western „Killers of The Flower Moon“ (2023, für Apple TV+). In „Mean Streets“ (1973) zeigt er das Milieu seiner Kindheit mit aller Härte. Dass er Jodie Foster in „Taxi Driver“ (1975) als zwölfjährige Prostituierte besetzt, bringt ihm eine Morddrohung von John Hinckley ein, dem späteren Reagan-Attentäter.
Scorsese scheut das Extreme nicht, er mildert Gewalt nicht ab, seine „truthful violence“ sieht er auch als Grund dafür, dass ihm die Academy erst 2007 einen Oscar verleiht. Immer wieder kämpft er für seine Bilder gegen die Mainstream-affinen Mogule an.
Steven Spielberg erinnert sich daran, Martin Scorsese von Mordgelüsten an einem Studioboss abgebracht zu haben
Schon immer lebt einer mit mehr Zorn im Bauch, wenn ihm etwas herztief wichtig ist, bei dem er von Willen und Geld von Ignoranten abhängig ist. Die Nouvelle Vague prägt Scorsese, die mit allen Regeln bricht. Und deren Meister Jean-Luc Godard rühmt Scorseses Emanzipationsstück „Alice lebt hier nicht mehr“, Ingmar Bergman lobt die „Gewalt auf dem höchsten künstlerischen Level“ in „Taxi Driver“, für den es 1976 die Goldene Palme von Cannes gibt.
Untergängen folgen Auferstehungen, manische Arbeit und Drogenmissbrauch führen zu tiefsten Erschöpfungen, einmal ist Scorsese fast schon tot. Seine Ex-Frauen erzählen davon, seine Töchter, seine Eltern und auch alte Buddys aus Little Italy hört man hier. Und das Filmvolk: Seine „ewige“ Cutterin Thelma Schoonmaker, befreundete Regiekollegen und Stars. Spielberg habe ihm einmal „Marty, stop it!“ zugerufen, als Scorsese einen Studioboss umbringen wollte.
Er gilt als Mafia-Filmer, Gangster-Filmer, aber er hat auch Historienfilme, Dramas, Romanzen, Thriller im Portfolio - und als großer Rock’n’Roll-Fan unter den Filmemachern mitreißende Musikdokus geschaffen – „The Last Waltz“ (1976), das Abschiedskonzert von The Band, erscheint wie ein Spielfilm.
Mehr als früher sei er heute Familienmensch, sagt seine jüngste Tochter Francesca (25). Er kümmert sich rührend um seine schwer an Parkinson erkrankte Frau Helen (77), und Papa, Mama, Kind verbringen zusammen Freizeit bei gemeinsamen Filmabenden. Doch nur nicht täuschen lassen: Die Filmwebsite imdb.de kündigt sieben Regieprojekte Scorseses an.
Mit „Midnight Vendetta“ ist – natürlich – auch ein Gangsterfilm unter Scorseses Vorhaben. In der Doku erklärt der Trump-Kritiker – anhand von „GoodFellas“ (1990), einem seiner größten Box-Office-Hits – die unerschütterliche Faszination der Zuschauer für den Typus Gangster. Und liefert damit ohne Absicht eine weitere Erklärung für die zweite Ankunft Donald Trumps im Oval Office.
„Der Gangster“, sagt er, „ist ein amerikanischer Held in dem Sinne, dass die Leute es genießen, einem Stellvertreter zuzuschauen, der einfach macht, was er will“.
„Mr. Scorsese“, Dokuserie, fünf Episoden, von Rebecca Miller, mit Martin Scorsese, Robert De Niro, Thelma Schoonmaker, Steven Spielberg, Jay Cocks, Jodie Foster, Sharon Stone, Leonardo DiCaprio, Isabella Rossellini, Daniel Day-Lewis, Margot Robbie, Robbie Robertson, Domenica Scorsese, Cathy Scorsese, Mick Jagger (ab 17. Oktober bei Apple TV+)
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